“Süchtig nach Leben” – Jeder Weg in eine Abhängigkeit ist vielschichtig, facettenreich, sehr persönlich und individuell. Mit diesem SehnSuchtblog möchten wir die persönlichen Geschichten dahinter beleuchten, Suchttherapie-Möglichkeiten aufzeigen, bestärken, den Weg aus der Sucht zu gehen und Lebenslust versprühen. Denn: Das Leben ist schön, sogar wunderschön. Und zu schön, um es vom Suchtmittel beherrschen zu lassen.
Dr. Christoph D. Bätje, Chefarzt der Paracelsus Wiehengebirgsklinik über die Vorurteile gegenüber Suchtkranken, den Einsatz einer sensiblen Sprache zur Entstigmatisierung und der Tatsache, dass eine Suchterkrankung jeden treffen kann.
Vorurteile und Erwartungen bestimmen vielfach das Bild, das sich Menschen von Suchterkrankten machen. Aus Sicht von Dr. Christoph Bätje liegt das vor allen Dingen darin begründet, dass Menschen, die nicht der gesellschaftlichen Norm entsprechen, natürlich stärker auffallen und schnell in Schubladen gesteckt werden. Anders sieht es bei Menschen aus, die trotz Suchterkrankung ein scheinbar normales Alltags- und Berufsleben aufrechterhalten „Jemand, der bei einer bestehenden Suchterkrankung einen festen Job hat und seine Aufgaben erledigen kann, fällt gesellschaftlich erst einmal nicht auf. Die Erkrankung ist noch nicht so weit fortgeschritten, als das Auffälligkeiten auftreten, so Bätje weiter. Unterstützt wird dieser Umstand häufig durch das soziale Umfeld, das eine Co-Abhängigkeit entwickelt. Partnerinnen oder Partner übernehmen die Krankmeldung auf der Arbeit, entsorgen leere Flaschen oder kaufen sogar das Suchtmittel ein. Letztendlich wird mit diesem Verhalten das System der „Undercover-Sucht“ unterstützt und die Folgen versteckt. „Angehörige unterstützen so die Betroffenen mehr und mehr beim Krankwerden. Fatalerweise eine Unterstützung an der falschen Stelle“, erklärt er. Umso wichtiger sei es, die Angehörigen im Rahmen einer Behandlung mit einzubeziehen. Denn, so weiß Bätje, es sei eine unglaubliche Herausforderung für Angehörige, den Suchtkranken quasi ins offene Messer laufen zu lassen und die Unterstützung zu verweigern.
Im Gegensatz dazu stehen die Betroffenen, die durch ihre Suchterkrankung tatsächlich ihren Job verloren haben, oft vor dem Nichts: Finanzielle Schwierigkeiten, Trennung, Wohnungsverlust oder Unterhaltsschulden sind fast immer Folgen einer schweren Suchterkrankung. Ab diesem Punkt ist die Situation so weit fortgeschritten, dass eine Entgiftung und anschließende stationäre Entwöhnung nicht mehr ausreichend ist. Die sozialen Folgen sind zu massiv und machen die Erkrankung so katastrophal und schwierig. Schlussendlich fällt diese Personengruppe in der gesellschaftlichen Wahrnehmung sehr stark auf, sodass sich Vorurteile und Erwartungshaltungen, aber auch massive Abwehr und Stigmatisierung entwickeln.
Über Suchterkrankungen sprechen
Um diese extrem negativen und vor allen Dingen ungerechtfertigten Vorurteile gegenüber Suchtkranken aufzubrechen sei es aus Sicht von Dr. Bätje wichtig, über Suchterkrankungen zu sprechen und in die Öffentlichkeit zu gehen. Sein Ansatz und seine Überzeugung sei dabei, immer bei dem Begriff der Krankheit zu bleiben und den Menschen die Erkrankung so zu erklären, dass sie in die Lage versetzt werden, sich die Erkrankung vorzustellen. „Psychische Erkrankungen sind wenig greifbar. Die Aufgabe besteht darin, die Erkrankungen so darzustellen, dass sie für Menschen entstigmatisiert vorstellbar werden.“ Um Psychiatrie und Suchterkrankungen zu verstehen, greife er meist auf Beispiele einer somatische Erkrankung zurück. „Bei einem gebrochenen Arm würde keiner auf die Idee kommen, nicht zum Arzt zu gehen und sich stattdessen ein Pflaster drauf zu kleben, um ihn vor der Öffentlichkeit zu verstecken. Bei einer Suchterkrankung passiert dieses Muster allerdings häufig.“ Zudem sehe er die Rehabilitationskliniken und Akuthäuser in diesem Zusammenhang in der Pflicht, möglichst nah an die Bevölkerung heranzutreten und Kontaktpunkte zu schaffen, um Berührungsängste zu minimieren. Das könne durch Ehemaligentreffen funktionieren, ebenso durch Tage der offenen Tür oder auch Kooperationen mit örtlichen Vereinen.
Gebrauch einer sensiblen Sprache
Die Verwendung einer sensiblen Sprache sei ein zweiter wichtiger Punkt, so Bätje, um Vorurteilen entgegenzuwirken und zu einer Entstigmatisierung beizutragen. Begrifflichkeiten wie „Alkoholiker“ oder „Junkie“ reduzieren den betroffenen Menschen in einem ohnehin schon sensiblen Bereich. Als weiteres Beispiel nennt er die Begrifflichkeit „illegale Droge“. Aus seiner Sicht ist eine Droge niemals illegal, sondern wurde durch den Gesetzgeber als illegal eingestuft. Bereits das Wort „illegal“ schaffe folglich das Stigma. Ein Problem, das durch den allgemeinen Sprachgebrauch sehr festgefahren sei.
Kleine Kontakte mit großer Wirkung
Als kleiner Schritt in Richtung Entstigmatisierung falle ihm eine Wanderung mit einer Patientengruppe über den europäischen Fernwanderweg ein. Bei der mehrtägigen Wanderung musste in klassischen Berghütten übernachtet werden. Dort gehört das Trinken von Bier zur Mahlzeit üblicherweise dazu. „Vom Nachbartisch wurden wir gefragt, warum wir nichts trinken. Die Patientinnen und Patienten haben sehr selbstbewusst gesagt, dass sie abhängig von illegalisierten Substanzen sind und es bei einer Therapie dazu gehört, auf Alkohol zu verzichten“, erinnert sich Bätje. Diese Offenheit habe für große Verwunderung gesorgt, aber auch für Anerkennung für die Suchtkranken. „Es sind gerade diese kleinen Kontakte, auch in unserer täglichen Arbeit, die etwas bei den Menschen bewirken“, ist sich Bätje sicher.
Kurzfristiges Hilfsmittel mit Eigendynamik
Warum es jeden treffen kann und letztendlich ein Querschnitt der Gesellschaft in einer Klinik behandelt wir, erklärt Bätje damit, dass die Suchterkrankung viele Auslöser haben kann. „Eine Suchterkrankung verbirgt eine Grund-Verletzlichkeit in sich.“ Aus Zwillingsstudien wisse man, dass es genetische Zusammenhänge gebe. Ebenso gebe es lerntheoretische Modelle, die die Entwicklung einer Suchterkrankung erklären. Wenn es etwa bei Eltern und Großeltern zur Normalität gehöre, Alkohol zu konsumieren. Ebenso dürfe nicht unterschätzt werden, dass Abhängigkeitserkrankungen im Zusammenspiel mit anderen psychischen Erkrankungen öfter auftreten. In diesem Fall würde das Suchtmittel als Selbstmedikationsversuch eingesetzt werden, was eine große Gefahr mit sich bringt. Insbesondere Alkohol ist leicht verfügbar, legal, vielfach preiswert und werde massiv beworben. Betroffenen mit zum Beispiel einer Depression und Schlafstörungen werde suggeriert, dass der Konsum nicht gefährlich sein kann. „Dann entsteht schnell der Gedanke, mit einem Gläschen am Abend werde ich schon gut schlafen können“, führt Bätje weiter aus. Dieses Muster zieht sich durch das gesamte Spektrum psychiatrischer Erkrankungen. Mit Hilfe eines beruhigenden Mittels können sich Betroffene zunächst vom Alltag distanzieren. Jedoch entwickelt sich schnell eine Eigendynamik. Der Übergang vom kurzfristigen Hilfsmittel zur Abhängigkeit ist schleichend. Das zieht sich letztendlich durch alle Gesellschaftsschichten. Entsprechend behandeln wir einen Querschnitt der Gesellschaft, denn psychische Erkrankungen und die daraus folgenden individuellen Belastungen treten in allen gesellschaftlichen Schichten auf“ so Bätje abschließend.