Um diese Jahreszeit wird es spürbar nasser und kälter. Das macht sich nicht nur an unserer Garderobe bemerkbar. In manchen Fällen zeigen alte oder neue Narben eine Wetterfühligkeit auf und Narbenbeschwerden, wie Missempfindungen, Taubheitsgefühle, Kribbeln, Jucken, Kälte- oder Hitzegefühle, können auftreten. Dies betrifft auch viele Menschen, die an Krebs erkrankt waren oder sind, denn auch wenn die Tumoroperation schon länger zurückliegt, die Missempfindungen rund um die OP-Narbe halten an.
Brust-Operationen nach Krebs haben bei vielen Patientinnen weitreichende Auswirkungen auf das eigene Körperbild und die eigene Körperwahrnehmung. Oft werden bei der Operation sensible Nerven verletzt, was zu Ausfällen in der Sensibilität von Haut und Gewebe führt. Das heißt, dass betroffene Nerven während des Eingriffs in Mitleidenschaft gezogen werden. Hierbei kann es zu einem vollständigen oder teilweisen Sensibilitätsausfall an der bestimmten Körperstelle kommen. Patientinnen klagen in solchen Fällen über Empfindungsstörungen, dem sogenannten Taubheitsgefühl, am operierten Areal. Wenn der Bereich um die Narbe herum taub ist, kann dieses zu Irritationen in der Verarbeitung von Berührungsreizen und Eigenwahrnehmung führen: Die Hand fühlt die Brust aber die Brust fühlt nur unzureichend die Hand. Nicht selten liegt dieser Umstand auch mehrere Wochen, Monate und Jahre nach der Operation bei den Betroffenen vor. Therapeutinnen der onkologischen Rehaklinik „Paracelsus Klinik am See“ reagieren mit einem speziellen Behandlungsangebot.
Ein bisschen Taubheit und wohin sie uns führt
Je nach Operationsgeschehen können Taubheitsgefühle nicht nur die Brust betreffen, sondern auch die Schulter-Arm-Region, den Rücken oder den Bauch. Welche drastischen Auswirkungen Empfindungsstörungen auf Patientinnen haben können, weiß Ulrike Blum, Physiotherapeutin der Paracelsus Klinik am See in Bad Gandersheim, nur zu gut. „Das Leid, welches Patientinnen spüren, ist eine plötzliche Entfremdung im eigenen Körper. Die tauben Körperstellen werden als befremdlich und Berührungen dieser Stellen meistens als erschreckend, unangenehm bis schmerzhaft wahrgenommen. Bei manchen Patientinnen geht diese Entfremdung sogar so weit, dass sie Angst vor Fremdberührung haben und unbeabsichtigte Berührungskontakte Stressreaktionen auslösen. Das kann eine Partnerschaft und das eigene Selbstwertgefühl vor ganz neue Herausforderungen stellen.“ Außerdem erleben die Expertinnen vermehrt, dass dieses „heimliche Leid“ bei den betroffenen Patientinnen oft im Privatem bleibt, überschattet von Scham, Ängstlichkeit und Selbstzweifel.
Wahrnehmungsorientierte Einzelbehandlung nach Brust-OP
Im Rahmen einer onkologischen Reha bietet die Paracelsus Klinik am See Betroffenen mit tauben Körperregionen einen speziellen Behandlungsbaustein an: die wahrnehmungsorientierte Behandlung nach krebsbedingter Operation. Diese Einzelanwendung erfolgt in einer geschützten Atmosphäre – zwischen der Therapeutin und der Patientin. In der Behandlung stehe „das Erleben von Berührungen und Reizen“ im Vordergrund. Einfühlsam berühren die Therapeutinnen den gesamten Körper der Patientinnen. Was die eine Körperseite ungestört wahrnehmen und genießen kann, lässt sich auf die gleichzeitig berührte sensibilitätsgestörte Seite „übertragen“. Fühlt sich der Reiz auf der einen Seite angenehm an, so kann das Gehirn unter Wiederholung die positive Berührungserfahrung auch für die taube Seite abspeichern. „Ein Effekt aus der Hirnforschung: Das Gehirn hört nie auf zu lernen und sich auf Neues einzustellen“, verdeutlicht Ulrike Blum und betont: „Die Lernfähigkeit des Gehirns ermöglicht trotz veränderter Sensibilität, die betroffenen Körperregionen wieder als ‚eigen‘ und ‚zugehörig‘ zu erkennen.“ Die Berührung und Reizsetzung während der Behandlung erfolgt mit den Händen und nutzt unter anderem Rhythmus, Vibration, Peelinghandschuh oder Öl. „Unser Hauptziel ist die Verbesserung der Wahrnehmungsverarbeitung von gefühlsbeeinträchtigten Körperstellen nach krebsbedingten Operationen. Wir ermutigen, schenken Selbstvertrauen und zeigen unseren Patientinnen nicht nur, dass sie ‚mehr‘ spüren können, sondern auch, dass sie wieder Vollständigkeit und Schönheit in ihrem eigenen Körper spüren können.“
Die Behandlung wird in der Klinik am See überwiegend bei Brustkrebspatientinnen eingesetzt, sei es nach einer brusterhaltenden Operation oder nach Entfernung der gesamten Brust. Sie kann allerdings allen Betroffenen mit anhaltenden Taubheitsgefühlen nach einer Operation verordnet werden.
Über positive Erfahrungen dieses Behandlungsangebotes kann auch Marion Bergmann sprechen. Die Mitarbeiterin der Klinik erkrankte 2017 selbst an Brustkrebs und litt nach ihrer brusterhaltenden Operation an Taubheitsgefühlen im operierten Areal. „Nachdem das gefühllose Areal gefunden wurde, strich mir die Therapeutin über den Oberkörper, erst ganz ruhig und danach vibrierend. Sie wiederholte die Berührungen. Das fühlte sich gut an, immer besser sogar, so dass ich eine positive Gänsehaut bekam“, beschreibt Marion Bergmann und ergänzt: „Ich habe deutlich meine rechte Brust wahrgenommen. Eindeutig habe ich ihre Hand an der Stelle gespürt, an der ich eigentlich kein Gefühl habe. Ich bin begeistert und dankbar für diese Berührungserfahrungen.“