28. April 2023 

Manchmal ist selbst 1 Meter zu weit

Ruth B. ist 55 Jahre jung und bekam 2022 die Diagnose Darmkrebs. Wie sie von einem Tag auf den anderen zum Pflegefall wurde und wie der Jakobsweg bis heute ihre Krankengeschichte prägt, erzählt sie in unserem Krebsblog.

Diese Geschichte ist eine von vielen unserer onkologischen Patientinnen und Patienten. Weitere Geschichten haben wir hier im Menü für Sie verlinkt. Schauen Sie rein. Jede einzelne geht ans Herz!


Wie alles begann

„Wenn ich über meine Krebserkrankung spreche, dann muss ich von vorne beginnen“, berichtet Ruth B. Im Januar 2021 wurde bei ihr Diabetes festgestellt. Diabetes Typ 2 ist die wohl meistverbreitete Zuckerkrankheit in Deutschland. Die Erkrankung beginnt schleichend und mit unspezifischen Symptomen. Unbehandelt führt der Diabetes mellitus zu schweren Folgeerkrankungen, aber durch eine richtige Ernährung und Bewegung lassen sich die Blutzuckerwerte verbessern. An diesen Grundsatz hielt sich Ruth B. „Low Carb“ stand nun auf dem Speiseplan. Mit einer Ernährungsexpertin, konsequenter Ernährungsumstellung und ausreichender Bewegung haben sich die Werte schon innerhalb weniger Monate deutlich verbessert.

Jakobsweg – mit Diabetes im Gepäck

Den Jakobsweg pilgern trotz Diabetes? Für Ruth B. ein Ziel. Im April 2022 sollte das große Abenteuer in Galizien (Nord-Spanien) starten. Der Camino Inglés verläuft in hügeliger Landschaft von Ferrol nach Santiago de Compostela. Die Gesamtstrecke beträgt 114 km. Das ist mal eine Ansage, dachte sich Ruth B. Zusammen mit ihrem Mann nahm Sie die Herausforderung an. Es wurde geplant. Es wurde gepackt. Es wurde hart trainiert. Stets unter Aufsicht von Diabetesexperten der Deutschen Diabetes Gesellschaft, die sie auch während der Pilgerreise begleiteten. Ruth B. hatte vor ihrer Reise noch einen Besuch beim Frauenarzt. Ein Routinebesuch. Einen Stuhltest. Ebenfalls Routine. Doch dann das Ergebnis: Der Stuhltest war positiv und enthielt Blut. Ruth B. nahm die Nachricht gelassen: „Ich war gedanklich vollkommen bei unserer bevorstehenden Reise. Daher stand der Fahrplan schnell fest. Erst einmal die Reise und nach unserer Rückkehr kümmere ich mich um die Darmspiegelung.“ Gesagt, getan.

„Unser Camino Inglés Abenteuer war fantastisch. Der Weg ist eine tolle Einsteiger-Route. Es hat viel Spaß gemacht und die Betreuung war super. Anhand einer kontinuierlichen Stoffwechselkontrolle, welche uns vor Reiseantritt zur Verfügung gestellt wurde, hatte man die Blutzucker-Schwankungen stets im Auge und konnte darauf reagieren. Am 5. Mai sind wir in Santiago angekommen. Stolz und Ehrfurcht durchdrängten uns“, fasst Ruth B. ihre Pilgertour zusammen.

„Du bist heil“

In Santiago de Compostela angekommen, durchflossen, emotional berührt, die Worte: „Du bist heil“ durch den Körper von Ruth B. „Ein unsagbares Gefühl und kaum in Worte zu fassen.“ Wieder zu Hause angekommen, fand Anfang Juni die Darmspiegelung statt und sofort stand sie fest, die Diagnose: Darmkrebs. Im Rektum von Ruth B. hatte ein kreidebleicher Gastroenterologe einen 5 cm großen Tumor im fortgeschrittenen Stadium gefunden. Wo war der Schock? Wo das Gefühlschaos? Ruth B. nahm die Diagnose gelassen. Unerschütterlich hielt sie an ihrer emotionalen Berührtheit Du bist heil fest. So verwandelten sich diese Worte in eine magische Formel. Ein weiterer Fahrplan musste her. Die Krebstherapie sah eine Strahlentherapie mit gleichzeitiger Chemotherapie vor, um den Tumor zu verkleinern, so dass er bei einer anschließenden Op komplett entfernt werden konnte. Ruth B. packte es mit Optimismus, positiver Kraft und Energie an. Was sagte die magische Formel? Du bist heil! Nach 26 Sitzungen im Aachener Klinikum hatte es Ruth B. im Oktober 2022 geschafft. „Die Qualen der Nebenwirkungen, wie Durchfall oder Entzündung der Schleimhaut, hatten sich bezahlt gemacht. Der Tumor hat sich von der Größe eines Tennisballs zu einem Golfball verkleinert“, beschreibt die Rheinländerin.

Wie fühlen sich die regelmäßigen Fahrten ins Klinikum an? Auf den ersten Blick eine scheinbar rhetorische Frage. Ruth B. machte das Beste aus ihnen. „Wenn die Fahrten und Klinikum Aufenthalte für mich schon nicht schön sind, dann kann ich sie zumindest für meine Mitmenschen versüßen.“ Selbstlos und vollkommen beseelt nahm Ruth B. bei jeder Fahrt 3 Gummibärchentütchen mit und verschenkte diese an Busfahrer, Sicherheitsdienstmitarbeitende, Pflegekräfte, Reinigungspersonal und viele weitere. „Das Lächeln und die Freude, die mir entgegengebracht wurde, waren unbezahlbar. Noch heute erinnere ich mich gerne an die wunderbaren Momente zurück. Sie geben ein gutes Gefühl und Motivation.“ Die Aktion zeigt nur zu deutlich, was kleine Momente im Leben bewirken können. Einfach bemerkenswert! 

Die „Unheil“ Phase

Mitte November konnte endlich der Tumor entfernt werden. Da rief sich die magische Formel wieder in den Kopf: „Bald habe ich es geschafft. Bald bin ich wieder heil.“ Die magische Formel hatte in diesem Fall unrecht. „Von heute auf morgen war ich bettlägerig und ein Pflegefall. Die Ursache war ein künstlicher Darmausgang. Leider hatte man mich im Vorfeld zu wenig über Stoma und seine Folgen aufgeklärt. Meine Positivität war schlagartig weg. Stattdessen Schnappatmung, Tränen und Trauma. Ich schaute auf meinen Bauch und sah mein Stoma. Es war wie ein Alien in meinem Bauch, der mich anspuckte. Unter Tränen schaute ich auf die andere Seite. Kein besserer Anblick. Zu sehen war meine Op-Narbe mit 40 Tackernadeln befestigt.“ Der Schock und ein Trauma saßen tief.

Die „Unheil“ Phase begann. Drei Mal täglich kam der Pflegedienst zu Ruth B. nach Hause. Sie kümmerten sich um die Stomaversorgung und Stomapflegeroutine. „Das Problem war, dass mein Stoma nicht dicht geworden ist. Immer wieder ist es ausgelaufen. Mit einer frisch operierten Narbe daneben eine unschöne Kombination. Ich stellte schnell fest, dass selbst 1 Meter manchmal zu weit für mein Stoma war. Mit dieser völligen Unkontrollierbarkeit kam ich nicht klar.“ Die Folgen waren gravierend. Ruth B. traute sich nicht mehr aus dem Haus. Von Tag zu Tag wurde sie schwächer und eine Lösung musste her. Nach den vorgeschriebenen Untersuchungen konnte glücklicherweise festgestellt werden, dass das Stoma nach 6 Wochen und 2 Tagen wieder zurückverlegt werden kann. Schneller als üblich. Diese Nachricht und erneute Op war die ersehnte Rettung und das beste Weihnachtsgeschenk für Ruth B. Sie war befreit vom Pflegedienst und kam zu neuen Kräften. Ein Shoppingtrip 3 Monate nach der Krebs-Op durch Aachen und bunte Armbänder am rechten Handgelenk erinnern sie noch heute an den ersten Ausflug und wie viel Mut der Trip sie gekostet hat. Die Phase der „Heilung“ ist bei Ruth B. nun wieder eingetroffen. Stück für Stück versucht sie wieder in ihr altes Leben zurückzukehren.

Die onkologische Rehabilitation in Bad Gandersheim

In der onkologischen Rehabilitation in Bad Gandersheim findet Ruth B. zu neuer Energie. Alte Gedanken und Trauer lässt sie mit dem Pfeil beim Bogenschießen von sich fallen.

Mit neuer Kraft, aber auch mit tiefsitzendem Schock, Panik und Hilflosigkeit startet Ruth B. ihre onkologische Reha in der Paracelsus Klinik am See. Noch immer ist da dieses Gefühl. Noch immer fühlt sie das Stoma. Welches Stoma? „Alleine nach den ersten beiden Wochen bin ich mental und körperlich deutlich fitter. Die psychoonkologischen Gespräche, die Sport- und Physioangebote und die wahrnehmungsorientierte Behandlung haben ganze Wunder in meinem Körper bewirkt. Ich kann mich wieder als ganzer, vollständiger Mensch fühlen. Meine Individualität ist wiederhergestellt worden und auch mein Gehirn versteht so langsam, wie die neuen Wege in meinem Körper jetzt funktionieren. Ich bin dankbar, dass ich hier in Bad Gandersheim so viele großartige Erfahrungen erleben konnte“, fasst Ruth B. ihren Aufenthalt zusammen. „Hier habe ich vor allem eins gelernt: Wenn‘s passiert – Shit happens.“ In Bad Gandersheim konnte Ruth B. erleben, was es bedeutet, Heilung zu erfahren und so langsam kündigt sich die magische Formel wieder an Du bist heil! Mit diesen Worten steht dem Camino Francés – und ein erneuter Pilgerweg – nichts mehr im Wege.

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